Im Gespräch

Veröffentlicht am: 05.11.2025

Lesezeit: 7 Minuten

„Schulen Freiräume geben und ihnen Mut machen“

Stefan Ruppaner gilt als einer der innovativsten Schulentwickler Deutschlands. Als langjähriger Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen hat er eine klassische Hauptschule in eine vielfach ausgezeichnete Zukunftsschule verwandelt. Sein Ansatz: eine radikale Abkehr vom traditionellen Unterricht – hin zu selbstorganisiertem, erlebnisorientiertem Lernen. Wir haben mit ihm über den Wandel in Schule und Schulaufsicht gesprochen.

privat

Mit seiner „Schmetterlingspädagogik“ verbindet Ruppaner zwei Flügel: das freie, digitale Lernen in Lernateliers und das Lernen durch echte Erfahrungen – etwa im Rathaus, auf dem Bauernhof oder im Wald. Die Schule verzichtet weitgehend auf Noten, Klassenräume und Frontalunterricht. Stattdessen stehen individuelle Lernwege, Coaching und Gemeinschaft im Mittelpunkt.

Ruppaner ist ein scharfer Kritiker des bestehenden Bildungssystems. Er fordert eine grundlegende Reform der Lehrkräfteausbildung und plädiert für eine neue Rolle der Schulaufsicht: weg von Kontrolle, hin zu Begleitung und Ermöglichung. Seine Schule zeigt, dass Transformation möglich ist – und wirkt: Die Lernleistungen seiner Schüler:innen übertreffen regelmäßig den Landesdurchschnitt.

Heute ist Stefan Ruppaner nicht nur Autor und Speaker, sondern auch Vorstand einer Genossenschaft für freie Lernmaterialien. Sein Wirken inspiriert Schulen, Schulaufsichten und Bildungspolitik gleichermaßen – und stellt die Frage: Wie könnte Schule wirklich sein?

Welche strukturellen Rahmenbedingungen waren entscheidend für die Transformation Ihrer Schule?

Stefan Ruppaner: Zunächst braucht es den Willen zur Veränderung – die Lust, etwas Neues zu wagen und die Offenheit, andere Wege zu sehen. Das war bei uns gegeben. Ich hatte ein motiviertes Kernteam, das gesagt hat: Ja, wir wollen Schule neu denken – weg vom Lehren, hin zum Lernen. Selbstorganisiertes Lernen sollte im Mittelpunkt stehen.

Strukturell war die Unterstützung des Schulträgers entscheidend. Anfangs war er skeptisch, aber nach mehreren Gesprächen hat er unseren Weg mitgetragen und begleitet.

Was ich für unverzichtbar halte, ist Unterstützung von außen – der Blick aus einer anderen Perspektive. Die Schulverwaltung tut sich schwer damit, weil sie aus einer anderen Haltung kommt. Bei uns war es der Schweizer Peter Fratton (Anm.d.Red.: Gründer des Haus des Lernens), der unsere Prozesse begleitet und uns neue Perspektiven eröffnet hat. Ohne ihn hätten wir die strukturellen Voraussetzungen und die nötige Haltungsveränderung wohl nicht geschafft.

Sie sprechen von Haltungsveränderung – wie gelingt das konkret?

Stefan Ruppaner: Hilfreich ist, mutig Dinge auszuprobieren, ohne alles bis ins Detail durchzudenken. Wir haben einfach losgelegt – sogar bauliche Veränderungen ausprobiert. Dieses Prinzip des Ausprobierens und anschließenden Evaluierens hat sich bewährt. Man kann nicht von Anfang an wissen, wie alles in zehn Jahren aussehen wird. Man muss den Weg gehen und anfangen.

Dafür braucht es Offenheit – nicht nur in der Schule, sondern auch in den umgebenden Systemen. Nur so lassen sich neue Ansätze wirklich erproben.

Welche Erfahrungen haben Sie mit der Schulaufsicht gemacht?

Stefan Ruppaner: Zu Beginn hatten wir große Unterstützung vom Schulamtsdirektor, der politisch eher konservativ war. Auch das Schulamt hat uns anfangs sehr geholfen. Leider hat sich das später gewandelt: Statt Unterstützung gab es Gängelung, und man hat versucht, unsere Arbeit zu behindern. Pädagogische Unterstützung war nicht mehr erkennbar, und es gab kein Interesse an unseren Erfolgen. Das ging bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, die wir zum Glück alle gewonnen haben.

„Die Schulaufsicht braucht einen Rollenwechsel – von der Kontrolle hin zur Unterstützung.“

Stefan Ruppaner
Autor und Speaker, ehemaliger Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen

Stefan Ruppaner: Was wirklich hilft, ist, Schulen Freiräume zu geben und ihnen Mut zu machen: Probiert es aus, es ist nicht schlimm, wenn etwas mal nicht funktioniert.

Ein großer Fehler war, dass den Schulämtern in Baden-Württemberg die Verantwortung für Fortbildungen entzogen wurde. Sie wissen am besten, was vor Ort gebraucht wird, und können schnell reagieren. Bei uns wäre z. B. ein großer Bedarf an Fortbildungen zur Schmetterlingspädagogik – aber die Wege „von oben“ sind viel zu lang.

Die Spielräume nutzen, die wir haben

Wir sagen: Unterricht ist der Anfang allen Übels. Deshalb haben wir ihn abgeschafft – zumindest im klassischen Sinne. Stattdessen gibt es Inputs und Lernlandschaften. Natürlich sieht das Schulamt das anders, denn es ist für Unterrichtsentwicklung zuständig. Ich habe mich über vieles hinweggesetzt und gesagt: Ich mache das, was für das Kind Sinn ergibt – damit es jeden Tag gerne in die Schule kommt.

Ich kann nur dazu aufrufen, Vorschriften flexibel auszulegen. Es gibt immer Spielräume – und wenn wir sie nutzen, kommen wir gemeinsam weiter.

Welche konkreten Empfehlungen würden Sie einer Schulaufsicht geben, die eine Schule bei der Transformation begleiten möchte?

Stefan Ruppaner: Eigentlich müsste das Schulamt aktiv steuern – gerade bei Schulen, die sich nicht verändern wollen. Es braucht Motivation, Fortbildungen und gemeinsame Aktivitäten. Wenn die Schulaufsicht aber nur kontrolliert statt zu initiieren und zu unterstützen, wird es schwierig.

„Wir brauchen eine komplette Haltungsänderung.“

Stefan Ruppaner
Autor und Speaker, ehemaliger Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen

Die Schulaufsicht sollte keine Aufsicht mehr sein, sondern eine unterstützende Instanz. Ich würde die Schulaufsicht in ihrer bisherigen Form abschaffen. Wir brauchen keine Kontrolle, keine Statistikverwaltung. Schulaufsichten sollten Schulen so begleiten, wie wir Kinder begleiten – durch Coaching und Selbstorganisation.

Das bedeutet: Schulräte müssten in die Rolle von Coaches hineinwachsen. Doch dafür sind sie bisher nicht ausgebildet – es braucht ein neues Berufsbild. Wenn ich sage, Schulaufsicht abschaffen, meine ich nicht, die Menschen rauswerfen, sondern die Funktion neu denken: als Begleitung und Coaching.

Wenn Sie eine Fortbildung für Schulaufsicht gestalten könnten – was wären Ihre drei zentralen Inhalte?

Stefan Ruppaner: Wir bauen gerade das Institut für Schmetterlingspädagogik auf. Unsere Botschaft ist klar: Drei Dinge müssen sich verändern – Raum, Zeit und Expertise.

  • Raum: Lernumgebungen müssen gestaltet sein, sodass selbstständiges Lernen möglich wird.
  • Zeit: Es darf keinen klassischen Unterricht mehr geben – Lehrkräfte brauchen Zeit zum Coachen und zur gemeinsamen Gestaltung.
  • Expertise: Die Lehrkraft ist nicht mehr alleinige Wissensquelle. Wir müssen weg vom Unterricht und hin zur Lernbegleitung.

„Wir müssen den Wechsel schaffen – vom Lehren zum Begleiten.“

Stefan Ruppaner
Autor und Speaker, ehemaliger Schulleiter der Alemannenschule Wutöschingen

Dafür braucht es einen Konsens, dass wir diesen Wandel überhaupt wollen. Die pädagogischen Hochschulen bilden immer noch Lehrkräfte aus – keine Lernbegleiter. Der Paradigmenwechsel gelingt nur, wenn die Haltung stimmt.

Die Schulaufsicht hätte die Möglichkeit, diese Haltungsveränderung ins System zu bringen und mehr Schulen die Transformation zu ermöglichen. Dafür bräuchte sie allerdings eine völlig neue Ausbildung.

Und wenn wir diesen Wechsel nicht schaffen, verlieren wir die Kinder – denn dann übernehmen irgendwann KI-Apps wie ChatGPT die Begleitung.

Ich bin jetzt als Lernhelfer aktiv und gehe als Senior in die Schule. Das ist eine enorme Ressource: Die Babyboomer, die jetzt in den Ruhestand gehen, würden gerne noch etwas beitragen.

Dieser Artikel wird unter der Creative Commons-Lizenz „Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0)“ veröffentlicht. Weitere Informationen: Creative Commons Lizenz

Mehr zu diesem Thema