Voraussetzung ist, dass die in der Schule tätigen Erwachsenen die Interessen der Kinder wahrnehmen und vertreten und dass sie ihr Handeln an den altersgemäßen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten der Kinder orientieren mit dem Ziel, die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes in allen Bereichen individuell zu unterstützen und Schaden abzuwenden.
Kinder nehmen Erwachsene, die in der Schule tätig sind, in erster Linie als „Erwachsene“ wahr. Für sie ist es im Prinzip zweitrangig, ob es sich um Lehrer oder Erzieher, um Hausmeister, Psychologen, Helfer oder Eltern anderer Kinder handelt. Wichtiger als die Unterscheidung nach Berufsfeldern ist für ein Kind zu wissen, wofür die einzelnen Erwachsenen zuständig sind und dass die Gruppe der zuständigen Erwachsenen das „Dach“ über dem „Haus“ bildet, in dem sich das Kind geschützt und geborgen fühlt und in dem es sich frei entfalten kann. Eine Schule ist für die Bildung und Entwicklung von Mädchen und Jungen ein Gewinn, wenn diese mit „Schule“ folgende Einstellungen und Gefühle verbinden können.
Vielfache Erfahrungen bestätigen, dass es auch für die Lehrenden zufriedenstellender und entspannter ist zu arbeiten, wenn sich das gemeinsame Arbeitsziel an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder ausrichtet. Ein angenehmes Schulklima wirkt sich erwiesenermaßen positiv auf die Schulleistungen aus. Für eine menschlichere und erfolgreichere Schulkultur müssen wir umdenken. Weg von der Frage: „Welchem Anspruch müssen Kinder und Jugendliche in welchem Alter gerecht werden?“ hin zu der Frage: „Was braucht dieses eine Kind, um sich in seiner ganzen Persönlichkeit gesund weiterentwickeln zu können?“. Diese Grundhaltung einem heranwachsenden jungen Menschen gegenüber hat viel mit der Vermittlung und Verwirklichung mitmenschlicher und demokratischer Werte zu tun.
Begründung
Die Lebensbedingungen von Kindern in den Industrienationen haben sich dramatisch verändert: ihr Alltag wird nicht nur durch zunehmenden Medienkonsum, elektronische Spielsachen, veränderte Ernährungsgewohnheiten, geringe Geschwisterzahl und höheren Schuldruck bestimmt, sondern auch durch zurückgehende Bewegungs-, Begegnungs-, Spiel- und Erfahrungsräume. Das betrifft vor allem Kinder im Schulalter, die dem „Kleinkind- Spielplatz“ mit Sandkasten, Schaukel und Rutsche entwachsen sind, die aber an den gängigen Jugendfreizeitbeschäftigungen noch kein Interesse haben.
Die „Großen Kinder“ zwischen etwa 6 und 14 Jahren brauchen für eine gesunde seelische, körperliche soziale und emotionale Entwicklung neben Unterweisung und Anleitung durch Erwachsene vor allem ausreichend Zeit und Raum, um ohne direkte Beeinflussung durch Erwachsene mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, sich zu bewegen, aus eigener Initiative aktiv zu sein, sich im eigenständigen Spiel selbst zu erfahren, die Welt in einem allmählich größer werdenden Radius zu entdecken. Forschungen bestätigen immer wieder, dass Kinder, die genug Platz, Zeit, Anregungen und Altersgenossen haben, um diese grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft seltener fernsehen, besser in der Schule sind, sich gesünder fühlen und selbstsicherer sind, weniger aggressiv oder depressiv sind und weniger unter Stresssymptomen leiden.
Kinder dieser Altersstufe brauchen neben der Zuwendung, Anerkennung und Führung durch Erwachsene auch die Anregung und Unterstützung durch ältere Kinder und Jugendliche. „Große Kinder“ brauchen auf ihrem Weg ins Jugendalter ein „Geländer“ aus Verlässlichkeit, klaren Regeln und Strukturen, an dem sie sich halten und orientieren können. Kinder müssen selbstverständlich an allen Grundrechten teilhaben, wie dem Recht auf altersgerechte Mitsprache bei Dingen, die sie betreffen, auf Schutz vor seelischen und körperlichen Verletzungen. Dazu gehört auch, dass Kinder nicht in seelisch oder körperlich verletzender Weise zu Arbeit gezwungen werden dürfen. Nicht selten wird ausgerechnet gegen dieses Grundrecht im Zusammenhang mit „Schul-Arbeiten“ in Deutschland unbedacht verstoßen. Kinder leiden darunter. Nicht zuletzt sind Kinder darauf angewiesen, dass sich Erwachsene um die elementare Grundversorgung wie regelmäßiges Essen, ausreichend Schlaf, Körperpflege usw. kümmern.
Unter den derzeitigen Lebensbedingungen kommen bei zu vielen Schulkindern in Deutschland zu viele dieser Grundbedürfnisse zu kurz. Das wichtigste Indiz dafür ist die steigende Zahl und die intensivere Ausprägung von Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, psychischen, psychosomatischen und chronischen Erkrankungen Die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen solcher Entwicklungen sind nicht nur teuer, sie sind vor allem eine schwere Hypothek für die betroffenen Kinder: soziale und seelische Belastungen im Kindesalter sind oft die Ursache für Schulversagen und Ausbildungsprobleme und damit für spätere Arbeitslosigkeit, Armut, im schlimmsten Fall für Delinquenz. Emotionaler Hunger im Kindesalter kann später in Form von psychischen Erkrankungen zurückschlagen. Auch die körperlich-motorischen Defizite, die bei immer mehr Kindern festgestellt werden, wirken sich nicht nur in organischen Erkrankungen aus, sondern haben auch negative Wirkung auf die kognitive und sozioemotionale Entwicklung.
Andererseits erwerben Kinder, die sich noch weitgehend eigenständig in der Umgebung ihrer Wohnung mit anderen Kindern treffen und auf eigene Faust ihre „Welt entdecken und erobern“ können, die ihre „eigenen“ Lebens- und Rückzugsräume haben, offenkundig jene wichtigen Schlüsselqualifikationen, die sie benötigen, um mit anderen befriedigend zusammenleben und zusammenarbeiten zu können. Davon profitieren Familie und Freundeskreise. Diese Qualifikationen sind aber auch für die modernen Dienstleistungsgesellschaft unabdingbar, werden gleichwohl bei jungen Bewerbern und Berufseinsteigern oftmals vermisst: Rücksichtnahme, Taktgefühl, Teamfähigkeit, Selbstsicherheit, Selbstkritik, Initiative, Kreativität, Improvisationsgabe, Beweglichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Risikoabschätzung, um nur einige zu nennen.
Es gibt also genügend Hinweise darauf, dass es zu kurz gedacht ist, wenn wir uns in der aktuellen Schuldiskussion vorwiegend an kognitiven Bildungsstandards orientieren. Für die Zukunft unserer Gesellschaft sind über die Lerninhalte hinaus die Bedingungen des Aufwachsens der Kinder – vor allem in den Jahren vor der Pubertät! – von ganz entscheidender Bedeutung. Wenn man die gesunde körperliche, geistige, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder als Fundament einer intakten Demokratie und einer produktiven, kreativen Ökonomie versteht, dann muss die Einrichtung von Ganztagsschulen als Chance genutzt werden. Denn eine Schule, die sich nicht nur als Lern-, sondern auch als Lebensort für Kinder versteht, kann einen wesentlichen Beitrag leisten, verloren gegangene Lebensqualität für „Große Kinder“ wiederherzustellen.
Dieser Artikel von Lothar Krappmann und Oggi Enderlein wurde zuerst auf der Website von „Ganztägig bilden“ veröffentlicht. Die 23 Thesen für eine gute Ganztagsschule als PDF finden Sie hier.