Individualisiertes Lernen ist ein sehr weitreichendes Konzept. Worauf kommt es dabei aus Ihrer Sicht an?

Helge Daugs: Die Heterogenität in vielen Klassenzimmern steigt nach der Corona-Pandemie und der Zuwanderungssituation durch die Krisen und Kriege in der Welt. Daher ist es heute umso wichtiger, eine gute Idee davon zu entwickeln, wie alle Schüler:innen auf ihrem jeweils individuellen Niveau erfolgreich notwendige Kompetenzen weiterentwickeln können. Das stellt sehr hohe Anforderungen an die Lehrkräfte. Sie müssen gut ausgebildete, hochkonzentrierte Profis für Lehr-Lern-Prozesse sein, das heißt auf Basis eines funktionalen Classroom Managements kognitiv aktivieren und konstruktiv unterstützen wollen und können. Um nicht an den Gruppengrößen zu scheitern, bedarf es einer sorgfältigen Unterrichtsvorbereitung in allen Dimensionen, ansonsten kann schnell eine Überforderung durch zu viele gleichzeitig aufkommende Hilfebedarfe entstehen.

Im Unterricht gelingt es nach meinem Eindruck sehr gut, Schüler:innen zu Handlungen zu aktivieren. Das ist organisatorisch häufig vorbildlich gestaltet, es motiviert die Schüler:innen hochgradig und sorgt auf den ersten Blick für eine Vielzahl erwünschter Prozesse. Es stellt sich mir aber über die Jahre und angesichts der Ergebnisentwicklung zunehmend die Frage, was bei der/dem Einzelnen dabei wirklich ankommt, inwieweit kognitive Aktivierung auf einem geeigneten Level ausgelöst wird. Dies gilt gerade bei den Leistungsschwächeren mit weniger Selbstwirksamkeitserleben und reduziertem Durchhaltevermögen.

Bei aller Wertschätzung des skizzierten Unterrichtshandelns müsste es aus meiner Sicht zukünftiger Anspruch sein, noch besser jedes einzelne Kind möglichst nah im eigenen Lern- und Entwicklungsprozess wahrzunehmen und es konstruktiv dabei zu unterstützen, die nächste Stufe zu erreichen. Das hieße für mich Individualisierung: zu wissen, was das einzelne Kind braucht und welchen Schritt es als nächstes gehen muss. Darauf wären entsprechende Lehr-Lernarrangements hin zu organisieren.

Dafür ist eine regelmäßige, niedrigschwellige Diagnostik im Sinne eines schnell durchführbaren Screenings erforderlich. Diese fehlt den Schulen vielerorts aus meiner Sicht. Halbjährliche digitale Lernstandsmessungen in Kernbereichen des schulischen Lernens sollten das Angebot eines individualisierten Unterrichts rahmen – am besten digital mit automatisierter Auswertung

Wie kann individualisiertes Lernen konkret umgesetzt werden? Können Sie ein Beispiel nennen?

Helge Daugs: Ein hilfreicher Ansatz zu einer zarten Veränderung ist meiner Meinung nach der Gedanke der Fachbänder. Ich kenne Schulen, die versuchen auf Jahrgangsebene möglichst häufig in der Woche Fachbänder im Plan zu verankern. So hat beispielsweise der gesamte dritte Jahrgang dienstags und donnerstags in der vierten Stunde Deutsch. In dieser Zeit verlassen die Schüler:innen den Klassenverband und haben die Möglichkeit, nach dem eigenen Bedürfnis unterschiedliche Angebote in den umfunktionierten Räumen aufzusuchen. In einem Raum gibt es dann z. B. zentrale Erklärungen in Verbindung mit der Möglichkeit von Nachfragen, in einem weiteren Raum könnte still gearbeitet werden, ein Raum böte kooperative Arbeitsformen an, um die Gruppe der Mitschüler:innen zu nutzen. Je offener die Fragestellung, desto wichtiger würde ein weiterer Raum für Präsentationen oder für kreatives Weiterdenken.

Das multiprofessionelle Personal, das ansonsten in einem Raum gebunden ist, verteilt sich bedarfsgerecht auf die Zonen, es beobachtet, unterstützt konstruktiv und dokumentiert. Befindet sich eine solche Gruppe auf einem Schulflur und kann dieser mitgenutzt werden, entsteht eine besonders entspannte Unterrichtsatmosphäre. Das ist eine relativ einfache Idee, die sich schrittweise strukturell umsetzen lässt. Sie akzeptiert auch Vorlieben in den Kollegien durch die unterschiedlichen Rollen in der Unterstützung des Lernens und fördert zugleich Kooperation durch die gemeinsame Arbeit in der Lernbegleitung im Rahmen des multiprofessionellen Teams. Vakanzen können zusätzlich vielfach besser aufgefangen werden als in der Klassenraumsituation. 

Was können Schulleitungen und Mitarbeitende der Schulaufsicht tun, um individualisiertes Lernen zu fördern?

Helge Daugs: Die Lehrkräfte sind zuständig für die Lehr-Lern-Prozesse und nehmen vermutlich mit der Qualität ihres pädagogischen, methodisch-didaktischen und inhaltlichen Angebots den größten Einfluss auf das schulische Lernen der Kinder und Jugendlichen. Das müssen wir uns bewusstmachen. Die Schulleitung kann hier hilfreich flankieren, unterstützen und kontrollieren. Zunächst ist sie mit ihrer Vision für die Schul- und Unterrichtsentwicklung insgesamt handlungsleitend und mit ihrer Haltung Vorbild. Zentral erscheint es mir diesbezüglich zu sein, im System ein flexibles Selbstbild – Growth Mindset – vorzuleben, das sich selbst, aber auch jeder und jedem Gegenüber Entwicklungspotenzial zutraut. Eine Schulleitung sollte sich regelmäßig Überblick dazu verschaffen, ob die Bedingungen und Angebote in der eigenen Schule passend zu den Bedürfnissen der Schüler:innen sind. Sie sollte sich dafür datenbasiert mit den Ergebnissen der schulischen Arbeit auseinandersetzen, z.B. mit VERA. Schulleitungen können und sollten in diesem Sinne intern auch dazu motivieren, regelmäßig Feedback von Schüler:innen und Eltern einzuholen – zum Beispiel zum Wohlbefinden und zur Zusammenarbeit.

Nicht zu vergessen ist, dass Schulleitungen Einfluss darauf haben, wie Lerngruppen zusammengesetzt, Zeiten strukturiert, multiprofessionelle Arbeitsformen im Kollegium gestaltet werden. Ein wichtiger Punkt ist dabei, die Qualifizierung innerhalb der Schule voranzubringen. Ich habe in letzter Zeit viele Schulen gesehen, die Mikrofortbildungen vom Team für das Team etablieren, weil sie erkannt haben: Wir wissen hier so viel. Wir sind alle Profis und können voneinander lernen. So gelingt es, das implizite Wissen explizit zu machen – niedrigschwellig mit einem kleinen Kulturwandel. Die Schulleitung kann dies unterstützen, indem sie beispielsweise für eine Randstunde in der Woche konsequent keinen Unterricht einplant. Das gesamte Kollegium kann diese Zeit für Mikrofortbildungen oder auch für die Zusammenarbeit in professionellen Lerngemeinschaften nutzen. So wird zusätzlich ein Einstieg in innerkollegiale Kooperation unterstützt.

Eltern zur Mitarbeit in einer Partnerschaft Erziehung und Bildung zu gewinnen, kann auch zunächst von der Schulleitung ausgehen. Sehr gute Erfahrungen machen wir hier mit der Umstellung der Elternsprechtage auf Schüler-Eltern-Lehrergespräche. Die Schülerzentrierung dieses Gesprächstyps bringt auch Eltern, die selbst als Schüler:innen negative Schulerfahrungen gemacht haben, wieder in die Schule, das kann ein wichtiger Anfang für eine gegenseitige Unterstützung sein.

So wie die Schulleitung mit den Lehrkräften im Gespräch sein sollte und Einblicke benötigt, so sollte es auch zwischen Schulaufsicht und Schulleitung sein. Sie sollten regelmäßig im Dialog stehen und datenbasiert die Ergebnisse der Schule analysieren, um nächste Entwicklungsschritte abzuleiten. Dabei ist die Schulaufsicht Begleiterin und Unterstützerin. Hier würde ich die Schulfamilien nach Anne Sliwka, die ich mit Interesse verfolge, anführen, die eine neue Zusammenarbeitskultur etablieren, die Einfluss auf eine veränderte Unterrichtsgestaltung im Sinne der Individualisierung von Unterricht vorantreibt.

Welchen Impuls können Sie Schulen für die Gestaltung individualisierten Lernens mit auf den Weg geben?

Helge Daugs: Ich denke, individualisiertes Lernen braucht eine gute Mischung, die beides unter Beachtung der genannten Tiefenstrukturen und der grundsätzlichen Überlegungen zu wirkungsvollem Unterricht nach John Hattie vereint. Der Ansatz zu „Deeper Learning“ ist aus meiner Sicht sehr vielversprechend – dieses Gemisch aus Instruktion, ko-konstruktivem Prozess und authentischer Leistung. Das ist ein schöner Dreiklang, und das müsste man hinsichtlich der Individualisierung näher in den Blick nehmen. Außerdem wissen wir ja seit der Hattie-Studie ganz viel über das, was wirkt. Die Erkenntnisse aus der Wissenschaft in schulische Überlegungen miteinzubeziehen, halte ich für sehr sinnvoll.

Am Ende gilt: Vom Kind aus denken. Verantwortungsgemeinschaften gründen. Kleine Schritte gehen! Agil verändern – ohne Anspruch auf den Erfolg im ersten Versuch! Auf Ausgewogenheit von Bewahren, Optimieren und Innovieren achten. Nach dem Verbindenden suchen – dem Ziel der Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen. Den Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit, Selbstwirksamkeitserleben und Resilienz herausstellen und – Erfolge feiern! Ja, das könnte es sein …
 

Dieses Interview ist in der Ausgabe 1/2024 „Individualisiertes Lernen“ der Leit-IDEEN erschienen, einer Publikationsreihe von „LiGa – Lernen im Ganztag“.

Zur Person

Helge Daugs ist Schulrat im Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und derzeit Programmleitung des Landesprogramms PerspektivSchule.

Zum Weiterlesen

Sliwka, A. und Klopsch, B. (2022): „Bildung“. In: Neu, C. (Hrsg.) (2022): Handbuch Daseinsvorsorge. Ein Überblick aus Forschung und Praxis, VKU-Verlag, S. 220 ff.

Beigel, J. / Klopsch, B. / Sliwka, A. (2023): Deeper learning gestalten. Ein Workbook für Lehrkräfte. Online frei verfügbar unter: https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/produkte/details/50550- deeper-learning-gestalten.html

Zierer, K. (2020): Visible Learning 2020: Zur Weiterentwicklung und Aktualität der Forschungen von John Hattie. Herausgegeben von der Konrad Adenauer Stiftung. Online frei verfügbar unter: https://www.kas.de/documents/252038/7442725/Visible+Learning+2020.pdf/e664fc77-2b6e-bc9d-f6a1-9b8075268a50

  • Erscheinungsdatum: 17.04.2024
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