Welche Rolle mussten Sie und Ihr Team während der aktuellen Corona-Pandemie einnehmen?
Torsten Klieme: Zunächst einmal dieselbe Rolle, die wir alle einnehmen mussten: die des Lernenden. Diese Situation war für uns alle völlig neu. Wir mussten feststellen, dass unsere üblichen Instrumente – zum Beispiel Schulleiterdienstberatungen – nicht mehr zur Verfügung standen. Für uns als Schulaufsicht ging es um drei Dinge. Zunächst mussten wir die wichtigsten Dinge rund um den Lockdown schnell regeln: konkrete und gute Informationen verteilen. Dann haben wir uns einen Überblick verschafft: Was passiert jetzt eigentlich gerade im Land im Hinblick auf die Qualität des Lernens? Wie funktionieren die Aufgabenübermittlung und der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern? Wie gehen Schulen da ran und welche Lösungen haben sie entwickelt? Dazu haben wir ein strukturiertes Leitfadeninterview mit allen Schulleitern von Sekundar- und Gemeinschaftsschulen geführt. Ein toller Nebeneffekt war, dass die Schulen das Interview auch als Beratungsgespräch genutzt haben und uns ihre Bedarfe mitgeteilt haben.
Welche Bedarfe waren das?
Torsten Klieme: Die Schulleiterinnen und Schulleiter wollten möglichst schnell und einfach auf aktuelle Informationen zugreifen – und brauchten dafür eine gute Ablageform und eben nicht nur die Suchfunktion im überfüllten E-Mail-Postfach. Ein weiterer riesiger Bedarf war, gute Praxisbeispiele kennenzulernen, damit nicht jeder das Rad immer wieder neu erfinden muss. Außerdem haben die Schulleitungen den starken Wunsch geäußert, sich untereinander digital austauschen zu können. Um auf diese Bedarfe zu reagieren, haben wir eine Moodle-Plattform eingerichtet, auf der Informationen systematisch abgelegt werden, gute Praxisbeispiele zu finden sind und ein Diskussionsforum den direkten Austausch ermöglicht.
Welchen Effekt hatte die Corona-Pandemie auf das Selbstverständnis und die Rolle ihres Teams?
Torsten Klieme: Ich vergleiche das sehr gerne mit dem Thema Digitalisierung der Schulen. Wir haben ewig lange über die Digitalisierung diskutiert und der Effekt in der Praxis war bislang überschaubar. Durch die Corona-Situation waren alle auf einmal gezwungen, es zu tun. Auf einmal war es ein Thema für alle. Alle mussten handeln. Denselben Effekt haben wir bei der Schulaufsicht: Wir reden seit vielen Jahren über den Wandel von der kontrollierenden, Aufsicht führenden Schulaufsicht hin zu einer beratenden, moderierenden, vielleicht sogar coachenden Schulaufsicht – und auf einmal war er dran! Wir mussten auf einmal Wege und Möglichkeiten finden, um genau die Funktion wahrzunehmen, welche die Schulen als Bedarf artikuliert hatten. Wir haben uns dem gestellt und versucht, ganz schnell in diese neue Rolle hineinzukommen.
Das hat zu meiner Überraschung sehr gut funktioniert. Es hat uns nicht in Rollenkonflikte gebracht, sondern uns eher ein Fenster geöffnet und eine Perspektive aufgezeigt, wie man trotz der Wahrung einer gewissen Distanz – und die ist nun mal da, denn Schulaufsicht ist nicht Schule – eine Art und Weise der Zusammenarbeit gestalten kann, die von gegenseitiger Wertschätzung und Kommunikation auf Augenhöhe lebt. Und zwar so, dass man trotzdem als Schulaufsicht weiß, was los ist. Und auch weiß, wo Dinge nicht gut laufen – und dann auch akzeptiert wird, dass man eingreift und sich meldet, um darüber zu sprechen. Wir arbeiten in einer Aufsichtsrolle vor Ort mit Profis zusammen, die Schulen leiten und in der Regel sehr gut wissen, was zu tun ist. Diese Rolle hat sich in den vergangenen zwei Monaten präzisiert und weiter ausgeschärft und ist von beiden Seiten sehr gut angenommen worden.
Meinem Team und mir kam dabei zugute, dass wir im Rahmen des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“ an einer zweijährigen Ausbildung zur Systemischen Organisationsentwicklung teilgenommen hatten. Die vermittelten Kompetenzen und Methoden waren ein großer Fund, um auf die neuen Anforderungen adäquat reagieren zu können.
Entspricht diese Form der Zusammenarbeit von Schulaufsicht und Schulleitung dem neuen Arbeitsbündnis, das Sie in Ihrem Buch beschrieben haben?
Torsten Klieme: Es gibt eigentlich gar keine andere Möglichkeit, als so zu arbeiten! Die Grundvoraussetzung, die wir da beschrieben haben, ist Vertrauen. Wenn man in der aktuellen Situation nicht in die Schulen fahren kann, dann muss man als schulfachlicher Referent den Schulleitern zunächst einmal vertrauen. Es hat sich gezeigt: Wenn wir mit so einem Vertrauensvorschuss auf die Schulleiter zugehen, vertrauen sie uns auch und geben sehr offen Informationen über ihre Schule und ihr Handeln preis. Sie sagen uns auch, wo sie noch Entwicklungsmöglichkeiten sehen, wo sie Schwierigkeiten haben und wo vielleicht sogar mal was schiefgelaufen ist. Sie akzeptieren, dass da jemand ist, der ebenfalls mit einem professionellen Blick – aber aus einer anderen Perspektive – Ahnung von Dingen hat und tatsächlich helfen kann, Herausforderungen zu bewältigen.
Hat sich auch die Zusammenarbeit innerhalb ihres Teams in dieser Zeit geändert?
Torsten Klieme: In der Regel ist der Schulrat oder schulfachliche Referent ein Einzelkämpfer. Doch in dieser neuen Situation war koordiniertes und gemeinsames Handeln gefragt – alles andere hätte nicht funktioniert. Die unterschiedlichen Stärken und Potenziale in meinem Team wurden sichtbar und konnten genutzt werden. Ein Beispiel: Nicht alle sind Experten für die Erstellung strukturierter Leitfadeninterviews, aber es gibt zwei Spezialisten und davon haben alle anderen profitiert. Die Synergien und Vorzüge von Teamarbeit, auch auf der Ebene der Schulaufsicht, sind für uns alle erlebbar geworden.
Dieser erfolgreiche Wandel, der da stattgefunden hat, bezieht sich auf Ihr Team und die von Ihnen betreuten Schulen. Wie sieht es anderswo aus?
Torsten Klieme: Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich aus anderen Bundesländern nur das, was ich in der Zeitung lese. Denn es gibt auf der Ebene der Schulaufsicht im Moment keinen strukturierten und kontinuierlichen Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Der ist auch in der Corona-Zeit nicht entstanden. Vermutlich, weil einfach die Grundstruktur fehlt. Wir wissen im Grunde nicht mal, was die Kollegen in Sachsen oder Thüringen konkret machen. Doch es gibt mit Sicherheit auch in anderen Bundesländern einzelne Mitarbeitende oder ganze Teams in der Schulaufsicht, die in der neuen Situation ihre Arbeitsweise verändert und neue Formen der Zusammenarbeit etabliert haben. Es würde mich doch sehr wundern, wenn unser Beispiel ein Einzelbeispiel wäre. Das glaube ich nicht.
Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit der von Ihnen beschriebene Wandel der Schulaufsicht keine Ausnahme bleibt, sondern zum Normalfall wird?
Torsten Klieme: Die Schulaufsicht braucht spezielles Know-how und bestimmte Kompetenzen, damit sie ihre Rolle ausfüllen kann. Dabei geht es insbesondere um Beratung, Personal- und Organisationsentwicklung. Wir werden den Wandel nur erreichen, wenn wir systematische Qualifizierungsprozesse für die Schulaufsicht etablieren – und zwar in möglichst vielen Bundesländern.
Doch auch jetzt schon ist Vieles möglich, weil die Räume für Schulaufsicht, sich zu verändern und zu handeln, gar nicht so klein sind. Um es mal ganz konkret zu sagen: Es hat jetzt in der Corona-Zeit für uns keine veränderte politische Vorgabe aus dem Ministerium gegeben, dass wir unsere Rolle als Schulaufsicht nun anders wahrnehmen sollen. Überhaupt nicht! Aber es gab den Raum, es machen zu können. Es hat also auch immer damit zu tun, die Dinge, die man als richtig erkannt hat, einfach mal zu machen.